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Workshop

Europäische Sicherheit und Verteidigung nach Russlands Angriff auf die Ukraine

Dr. Mayssoun Zein Al Din (Geschäftsführerin der Akademie) begrüßte die renommierten Teilnehmer aus den Feldern der Wissenschaft und praktischen Politikgestaltung zum Workshop mit einem Grußwort. Unter der Leitung von Dr. Iulian Romanyshyn (Fellow an der Akademie) wurde der Hintergrund der Sitzung erläutert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert die offensichtliche Rückkehr großflächiger militärischer Gewalt in Europa und wird von vielen Beobachtern als „Wendepunkt“ für die EU und euroatlantische Sicherheit bezeichnet. Zunächst überrascht das Maß an Einigkeit in Bezug auf die nie vorher dagewesene Unterstützung für die Ukraine. Aber auch die Sanktionen gegen Russland und der verteidigungspolitische Richtungswechsel vieler europäischer Länder sind hierbei von Bedeutung. Auf der anderen Seite hatten in der Vergangenheit etwaige sicherheitspolitische Schocks nicht zu derartigen Transformationen in der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsstruktur beigetragen. Was ist also dieses mal anders? Somit wurde in der weiterführenden Diskussionsrunde der zentralen Frage nach den Auswirkungen der existenziellen militärischen Bedrohung auf die Sicherheit und die Verteidigungszusammenarbeit in Europa nachgegangen.

Zu Beginn wurde die deutsche Zeitenwende thematisiert, wobei Prof. James Bindenagel (Botschafter a.D.) mit einer bemerkenswerten Ansprache die Diskussion eröffnete. Das vielversprechende 100 Milliarden Euro Sondervermögen soll Deutschland wieder befähigen verteidigungsfähig zu werden und seinen NATO-Verpflichtungen nachzukommen – schnelle Ergebnisse bleiben vorerst durch das überholte Beschaffungsamt aber abzuwarten. Weiterführend stellt sich die Frage, ob Deutschland das 2% Ziel der NATO einhalten wird, was in erster Linie vom politischen Willen abhängt. Der Schlüssel hierfür stellt die angekündigte nationale Sicherheitsstrategie dar, in der die Investitionen eingebettet werden müssen. Diese wird allerdings immer noch debattiert (u.a. über Fragen der Chinapolitik). Aber auch die Transformation der deutschen Doktrin von „Frieden mit Russland“ zu „Frieden gegen Russland“ spielt eine wichtige Rolle in der Zeitenwende. Dies wird nicht zuletzt durch die permanente Stationierung deutscher Truppen an der NATO-Ostflanke deutlich.

Weiterführend stellte sich die Frage was der russische Krieg für die NATO und US-Verpflichtung für die europäische Sicherheit bedeutet. Gerade die USA zeigen in diesem Kontext große Führungsstärke im transatlantischen Bündnis und leisten immer noch einen signifikanten Beitrag für die europäische Sicherheit. In Zeiten globaler Machtverschiebungen mit einem relativen Machverfall des Westens werden sich die USA zukünftig mit ihrem sicherheitspolitischen Engagement auf den indopazifischen Raum konzentrieren müssen. Hieraus ergibt sich die Forderung für eine größere Eigenständigkeit der EU-Mitgliedsstaaten in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In diesem Zusammenhang taucht immer wieder die Forderung nach gerechterer Lastenteilung (besonders vertreten von den USA) und strategischer Autonomie (besonders vertreten von Frankreich). Auch die Frage welche Rolle die EU im Verhältnis zur NATO in Zukunft einnehmen wird, bleibt abzuwarten.

Tatsächlich reagierte die EU zum ersten Mal in ihrer Geschichte im Zuge des russischen Angriffskrieges beeindruckend schnell und einig auf einen externen Schock. Der Krieg änderte somit die EU-Politik gegenüber Russland tiefgreifend. Im Gegensatz zu 2014 legte die EU ein ernstgemeintes Sanktionspaket (mit einer Umkehr der Dependenzen von russischen Energielieferungen) vor, um die Finanzierung von Putins Kriegsmaschinerie einzuschränken – auch wenn der genaue Effekt abzuwarten bleibt. Noch dazu sind die direkten Waffenlieferungen der EU an die Ukraine über die Europäische Friedensfazilität ein komplett neuer Ansatz. Zeitgleich stellt die russische Aggression eine erhebliche Chance für eine vertiefende Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dar. Während es in den letzten Jahren in diesem Politikbereich kaum Fortschritt gab, steht er nun ganz oben auf der politischen Agenda. Interessanterweise nimmt die EU-Kommission neuerdings eine aktive Rolle in diesem Prozess ein (mit legislativen Vorschlägen wie dem Act in Support of Ammunition Production (ASAP) oder dem European defence industry reinforcement through common procurement act (EDIRPA). Zuvor hatte die EU keine kohärente Strategie auf die überraschende Annektion der Krim, welche durch hybride Kriegsführung gekennzeichnet war und Unstimmigkeiten innerhalb der EU hervorrief. Der aktuelle massive Einsatz militärischer Gewalt lässt Russland weniger agil agieren und führt somit paradoxerweise zu einem strategischen Vorteil der EU, da keinerlei Zweifel an den Intentionen Russlands mehr bestehen können. Auch wenn schon zuvor die europäische Sicherheitsarchitektur erhebliche Brüche erlitten hatte, markiert der russische Angriffskrieg als größter interstaatlicher Krieg seit dem Ende des zweiten Weltkrieges in Europa das endgültige Ende einer regelbasierten Ordnung.

Weiterführend kam es hierdurch zu einem verteidigungspolitischen Wandel von Staaten wie Finnland und Schweden, die traditionell eine neutrale Position aufwiesen und nun der NATO beitreten werden (bzw. schon beigetreten sind). Außerdem sehen wir die Rückkehr der EU-Erweiterungspolitik mit dem verliehenen Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und Moldau. Daraus ergeben sich auch innerhalb der EU neue politische Verschiebungen, die Raum für neue Führungskraft bieten. Vor dem Fehlen bisheriger deutscher Initiativen treten gerade osteuropäische Staaten rund um Polen hier selbstbewusster auf. Aber auch die Rolle des Baltikums ist nicht zu unterschätzen. Der russische Krieg stellt für das Baltikum den größten geopolitischen Schock seit Jahrzehnten dar. Innerhalb der baltischen Bevölkerung herrschen weitflächig Sorgen vor einer russischen Invasion, da diese die eine historische Vergangenheit mit der Ukraine in Bezug auf Russland teilen und ähnliche Narrative (u.a. angebliche Wiedergeburt des Nazismus, Diskriminierung der russischen Bevölkerung, NATO als Bedrohung) über das Baltikum im russischen Diskurs herrschen. Die Verteidigung der Ukraine wird also als direkte Verteidigung des Baltikums betrachtet. Hieraus folgte eine überwältigende Unterstützung und Solidarität mit der Ukraine, aber auch weitreichende sicherheits- und verteidigungspolitische Maßnahmen. Das Baltikum stellt somit auch auf EU-Ebene eine lautstarke Stimme für eine striktere Sanktionspolitik gegen Russland dar. Ungarn hingegen fällt mit dem Versuch die russische Aggression zu normalisieren auf. Der Krieg stellt damit auch einen Test für regionale Kooperationsformate (innerhalb der EU sowie für die Osteuropäischen Partnerschaft) dar. Letztendlich bleibt also die Frage bestehen, ob Europa die militärischen Mittel aufbauen können wird, aber auch ob strategische Einigkeit (insbesondere zur Chinapolitik der EU) aufgebracht werden kann.

Leitung:

Dr. Iulian Romanyshyn, Fellow, Academy of International Affairs NRW, NRW (Zum Profil)

Kontakt:

Lisa Hartmann
Referentin für Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit

Ort:
Academy of International Affairs NRW, Rheinallee 24, 53173 Bonn, Germany

Teilnahme:

Nicht-öffentlich

Kooperationspartner:
Dr. Iulian Romanyshyn, Fellow, Academy of International Affairs NRW, Bonn, Germany

Veranstaltungssprache:
Englisch